Vortrag Roland Arthur Kohn: ‘Die Lebensformen Europas verteidigen’ – 03.02.2025
Unser Vize-Präsident Karl-Otto Gabel-Müller begrüßte die Anwesenden, besonders unseren Referenten Roland A. Kohn und seine Gattin.
Gabel-Müller stellte den Referenten kurz vor:
Geboren 1950 in Ludwigshafen; Studium der Philosophie und der Politikwissenschaft – Universität Mannheim: Magister Artium (M.A.); Publizist, Pressesprecher, Consultant; 1983-1998 MdB – Wahlkreis Mannheim/Weinheim; Ehemaliger Landesvorsitzender der FDP Baden-Württemberg – Mitglied des FDP-Bundesvorstands; Vizepräsident a.D. und Vorstand der überparteilichen „Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments e.V. (VeMdB), Berlin“; Bundesverdienstkreuz.
Vortrag „Europas Lebensformen verteidigen!“
Das Konzept „Lebensformen“
Kohn ging zunächst auf den Begriff „Lebensformen“ ein. Hintergrund sei der Methodenstreit der Historiker um 1900 zwischen Karl Lambrecht und den Anhängern Leopold von Rankes. Lambrecht bestand darauf, dass Wirtschaft, Kultur und Technik für das Verständnis der Geschichte so wichtig sei wie die Kenntnis der handelnden Personen und das Wissen um Jahreszahlen.
Der Begriff Lebensformen spielte dann auch seit Wittgenstein in der Philosophie eine Rolle.
Seine Fruchtbarkeit bewies er an Werken wie:
Arno Borst: Lebensformen im Mittelalter. Propyläen Verlag, Frankfurt am Main, ISBN 3-549-07284-8
Wolfgang Reinhard: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie. Beck, München 2004, ISBN 3-406-51760-9
Georges Duby: Guillaume Le Maréchal (William Marshal) oder Der beste aller Ritter. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-518-39302-2
Europas Lebensformen in der Geschichte
Im Laufe der Geschichte gab es in Europa verschiedene Lebensformen, die sich von unserem heutigen Leben stark unterscheiden. Kennzeichnend für die Lebensformen Europas ist vor allem die Betonung der Individualität, im Gegensatz anderen Teilen der Welt, in denen das Individuum gegenüber der Gemeinschaft zurücktritt.
Der erste Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, erklärte 1950:
„Es gibt drei Hügel, von denen das Abendland seinen Ausgang genommen hat: Golgatha, die Akropolis in Athen, das Capitol in Rom. Aus allen ist das Abendland geistig gewirkt, und man darf alle drei, man muss sie als Einheit sehen.“
Im Mittelalter war die übergeordnete Macht in Europa die katholische Kirche. Bereits ab dem 13. Jahrhundert kamen Ideen auf, die geistliche von der weltlichen Macht zu trennen.
Kohn beschrieb den europäischen Sonderweg beispielhaft an folgenden Persönlichkeiten:
- Marsilius von Padua entwarf in seiner politischen Theorie von 1324 das Modell eines von kirchlicher Vorherrschaft freien Staates, in dem die Staatsgewalt letztlich vom Volk ausgeht.
Die geistliche Gewalt des Papstes herrscht nur über die Seele der Menschen, die weltliche Gewalt beherrscht das Gemeinwesen.
- Martin Luther wollte mit seiner Reformation 1517 die Bibel in den Mittelpunkt rücken, die Menschen vom Ablasshandel der Kirche befreien und klarmachen, dass das Seelenheil sola fide zu erlangen sei.
- John Locke (1632-1704, Arzt und Philosoph, Vordenker der Aufklärung, Two treatises of government)
gilt als Vater des Liberalismus, argumentiert, dass eine Regierung nur legitim ist, wenn sie die Zustimmung der Regierten besitzt und die natürlichen Rechte auf Leben, Freiheit und Eigentum beschützt. Seine Vertragstheorie beeinflusste die Verfassungen der USA und im 19./20. Jahrhundert der europäischen Staaten maßgeblich.
- Voltaire (1694-1778) Französischer Philosoph, Vordenker der Aufklärung; er übte scharfe Kritik am Absolutismus und am Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche.
- Immanuel Kant
Kohn bezog sich auf Kants Rechtsbegriff: „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ (Die Metaphysik der Sitten)
Dieser Rechtsbegriff ist zentral für die Verfassung der Freiheit in Europa.
„Das Ende der Geschichte“?
Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama vertrat nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks die seltsame These vom Ende der Geschichte: die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft hätten sich endgültig durchgesetzt.
Wie aber steht es um die Lebensformen Europas heute?
Europas Lebensformen stehen unter Druck – international aber auch in Europa selbst
Das internationale Kräftefeld befindet sich nach Kohns Meinung in der Phase einer neuen Welt“un“ordnung, deren endgültige Gestalt noch nicht absehbar ist.
Es werde auf jeden Fall eine multipolare Welt sein mit Großmächten (USA, China), mit Atommächten (wie Russland, England, Pakistan, Nordkorea etc.), Wirtschaftsmächten (wie etwa EU, Indien, Brasilien, Südafrika) und mit der inhomogenen Staatengruppe des „Globalen Südens“ (wie Indonesien, Nigeria etc.).
Gegenwärtig ist dieses internationale Kräftefeld charakterisiert durch Abkehr von einer regelbasierten Ordnung, die durch das Völkerrecht beschrieben wird; durch Rückkehr nationalistischer Großmachtpolitik mit Einflusssphären, nackter Gewaltanwendung (Recht des Stärkeren), Krieg um Ressourcen.
Und Europa?
Europa ist auf diese neue Lage nicht wirklich vorbereitet, zumal die Trump-Administration Europa links liegen lässt.
Kohn fordert, die EU müsse endlich geostrategische Realpolitik lernen. Als probates Mittel stellt er zur Diskussion eine neue Architektur für Europa: Einheit nach außen – Vielfalt nach innen.
Ein europäischer Sicherheitsrat, in dem alle Staaten (die den Weckruf der letzten Jahre verstanden haben!) ihre Außen-, Sicherheits- und Rüstungspolitik bündeln.
Der Binnenmarkt samt Euro ist die wichtigste Trumpfkarte für das internationale Gewicht Europas. Seine Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und zu steigern, müsse deshalb im Vordergrund stehen. Sonst werde es zum Spielball anderer.
Der Respekt vor den gewachsenen – auch politischen – Kulturen der europäischen Nationen müsse gefördert werden; so könne das Verständnis für ein geeintes Europa gefördert und das Unbehagen an Gleichmacherei von Finnland bis Malta, von Irland bis Polen bekämpft werden.
Prioritäten in Deutschland
Für Deutschland sprach sich Kohn dafür aus, an allererster Stelle die Bildung zu fördern: Bildung als Befähigung für das Berufsleben, aber vor allem auch mit dem Schwerpunkt auf sozialen Kompetenzen, Leistungsbereitschaft, respektvollen Umgangsformen – kurz Anstand.
Entscheidend sei, rationale Diskurse über den Weg der Gesellschaft zu ermöglichen; das Konzept der „alternativen Fakten“ (Kellyanne Conway) dürfe sich nicht durchsetzen.
Leider seien die „un“sozialen Medien der Nährboden für die Verächtlichmachung der Demokratie.
Multiple Krisen der Gegenwart – der Krieg in Europa, Vernichtung von Arbeitsplätzen, disruptive Veränderungen in allen Lebensbereichen – stellten eine toxische Mischung aus Zukunfts- und Abstiegsängsten, aus scharfen Verteilungskämpfen und einer Wiederkehr autoritären Denkens dar.
Kohn appellierte abschließend an die Verantwortung jedes einzelnen Bürgers, nicht vor den Problemen zu kapitulieren; er rief ein Wort des Philosophen Karl Popper in Erinnerung: „Die Zukunft hängt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig.“ (The Open Society and Its Enemies)
Diskussion
In der sich anschließenden lebhaften Diskussion wurden eine ganze Reihe von Aspekten angesprochen:
Schwarz-Rot-Gold, die Fahne der deutschen Demokraten, die Fahne des Hambacher Festes wurde in der Nacht zum 3. Oktober 1990 vor dem Reichstag in Berlin aufgezogen; viel zu wenig werde heute an dieses Ereignis in der Pfalz erinnert.
Der Konflikt am Ussuri Fluss 1969 zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik China war kein ideologischer Konflikt, sondern Vorbote eines Konflikts im Sinne von Großmachtstreben.
China ist eine Weltmacht, die sich nicht um internationale Vereinbarungen schert und so tut als gehöre es zum Globalen Süden.
Indien ist zunehmend geprägt durch Hindu-Nationalismus.
Kohn erklärte es als einen historischen Fehler, dass de Gaulle 1957 das UK nicht in der EWG haben wollte, und UK andererseits noch immer seinen Commonwealth-Träumereien nachhing.
Das Ergebnis der intensiven Diskussion dieses außerordentlich interessanten Abends lässt sich so zusammenfassen:
Die Zukunft hängt von uns selbst ab!
Protokoll: Karin Katz
- R.A. Kohne ist nicht nur in den eigenen Reihen sehr geschätzt